Datenschutz Nachrichten
Heft 2-00 (Juli 2000)

Datenschützer rügt Humangenetiker:
Heimliche Auswertung von Blutproben und Daten behinderter Heimbewohner


Von Klaus-Peter Görlitzer
Humangenetiker der Universität Würzburg haben nach Einschätzung des bayerischen Datenschutzbeauftragten Reinhard Vetter sensible Patientendaten geistig behinderter Heimbewohner des St. Josefs-Stifts aus dem unterfränkischen Eisingen rechtswidrig verarbeitet und genutzt. Das geht aus einer im März 2000 erklärten "Beanstandung" hervor, in der Vetter außerdem rügt, dass Blutproben ohne Einwilligung der Betroffenen ausgewertet worden seien. Mindestens zwei Doktorarbeiten, die am Humangenetischen Institut erstellt worden waren, stützen sich auch auf Blutproben und Daten von Eisinger Heimbewohnern.

    Die heimlichen Blutentnahmen und Forschungen waren bereits von der Würzburger Staatsanwaltschaft unter die Lupe genommen worden. Nach ihren Ermittlungen hatte die frühere ärztliche Leiterin des Stifts mindestens 120 Blutproben sowie persönliche Daten von Heimbewohnern ohne Einwilligung von Betroffenen und Betreuern an das Humangenetische Institut weiter geleitet. Dort war das Blut anschließend molekulargenetisch analysiert worden – und zwar gratis, denn die Erstattung dieser Leistungen durch Krankenkassen ist nicht dokumentiert. "Die Untersuchungen", so der Leitende Oberstaatsanwalt Peter Schauff, "haben zumindest teilweise wissenschaftlichen Zwecken gedient."

    Nicht alle Blutproben seien anonymisiert worden. "Eine Doktorandin hatte unerlaubterweise Zugang zu den persönlichen Daten der Patienten", teilte Schauff weiter mit. Dies hatte die Staatsanwaltschaft als "Verletzung von Privatgeheimnissen" durch die frühere leitende Ärztin des St. Josefs-Stifts, welche die geschützten Daten an das Institut weitergegeben hatte, gewertet und einen entsprechenden Strafbefehl in Höhe von 3.500 DM gegen sie erwirkt. Weil die Medizinerin dagegen Einspruch eingelegt hat, muss nun das Amtsgericht Würzburg entscheiden. Richter Karl-Heinz Merkle hält die Angelegenheit für einen "Präzedenzfall"; nach zwei Verhandlungstagen im April hat er das Verfahren vorläufig ausgesetzt. Nun soll erstmal ein Sachverständiger ein medizinisches Gutachten erstellen, und das kann Monate dauern.

Ermittlungsverfahren eingestellt
    Das Ermittlungsverfahren gegen drei Würzburger Humangenetiker war Ende November 1999 eingestellt worden. "Zugunsten der Beschuldigten", erklärte die Staatsanwaltschaft zur Begründung, sei "davon auszugehen, dass sie von berechtigten Blutentnahmen ausgingen". Nicht belegbar sei, dass sie die Stiftsärztin dazu angestiftet hätten, unrechtmäßig Blut ausschließlich zu Forschungszwecken zu entnehmen. Gleichwohl gebe es auch Indizien dafür, dass fremdnützige Untersuchungen, die nicht der Gesundheit der Betroffenen dienen, Anlass für die Blutentnahmen gewesen sein könnten. Fremdnützige Forschung an Menschen, die wegen geistiger Behinderung nicht persönlich einwilligen können, ist in Deutschland verboten.

    Einen Anlass, die Ermittlungen  wieder aufzunehmen, gebe die Beanstandung des Datenschutzbeauftragten nicht, erklärte Schauff Ende März. Die unbefugte, rechtswidrige Verarbeitung geschützter persönlicher Daten ist nach dem Bayerischen Datenschutzgesetz nämlich nur dann strafbar, wenn der Täter in Bereicherungs- oder Schädigungsabsicht gehandelt hat.

Unabhängige Untersuchung
    "Das Ermittlungsergebnis der Staatsanwaltschaft liest sich wie eine Verteidigungsschrift, das ist doch skandalös", schimpft Horst Weiland. Er ist einer der Elternvertreter, die das Verfahren im Frühjahr 1998 per Strafanzeige in Gang gebracht hatten. Nicht nur die Eltern, auch die Verantwortlichen des St. Josefs-Stift finden die juristische Aufklärungsarbeit unzureichend. Die Heimspitze, die spätestens seit Februar 1998 über die Blutentnahmen und Forschungen informiert war, aber seitdem wenig zur Aufklärung der Vorgänge im eigenen Haus beitrug, bewegte sich unter öffentlichem Druck schließlich doch noch: Anfang 2000 beauftragte sie eine fünfköpfige Expertengruppe unter Vorsitz des Hamburger Psychiatrieprofessors Klaus Dörner, "die Vorgänge im Zusammenhang mit unerlaubten humangenetischen Untersuchungen an Bewohnern des St. Josefs-Stifts weiter aufzuklären".

    Im Juni 2000 tagte die Expertenrunde eine Arbeitswoche lang in Eisingen, anschließend veröffentlichte sie "vorläufige Ergebnisse", ein dicker Abschlussbericht soll im Frühjahr 2001 folgen und direkt beim St. Josefs-Stift (Nikolausstraße 1, 97249 Eisingen) zu erwerben sein. "Die Tatsache", befand die Kommission im Juni 2000, "dass hier ganz offensichtlich eine Reihenuntersuchung von BewohnerInnen des  St. Josefs-Stifts vorliegt, dass keine Einzelaufträge an die Humangenetik gestellt wurden und nur im Fall der positiven Testergebnisse Einzelbefunde von der Humangenetik verfasst wurden, spricht dagegen, dass es sich um Differenzialdiagnosen zur Abklärung der Gründe für die geistige Behinderung der BewohnerInnen handelte. (...) Aber selbst wenn man gemäß der Argumentation von ärztlicher Seite von Differenzialdiagnosen im Dienste des Patientenwohls ausgehen würde, liegen Regelverletzungen vor. Wie oben gezeigt wurde, schreiben die Leitlinien des Berufsverbands Medizinische Genetik aus gutem Grund vor, dass keine Gendiagnostik ohne vorherige Beratung durchgeführt werden soll."

    Dieser Einschätzung hat die "Kommission für Öffentlichkeitsarbeit und ethische Fragen der Deutschen Gesellschaft für Humangenetik" postwendend widersprochen. "Die Forderung der sogenannten Expertenkommission nach einer genetischen Beratung bereits vor jeder genetischen Diagnostik zur Abklärung einer klinischen Problematik wäre in vielen Fällen nicht praktikabel", heißt es in einer Stellungnahme vom 19. Juni 2000, unterzeichnet von den Professoren Klaus Zerres und Karl Sperling. "Die Feststellung von Regelverletzungen gegen Richtlinien unserer Standesorganisationen", versichern die Humangenetiker Zerres und Sperling, "entbehren jeder Grundlage." Beide müssten es besser wissen: Die Leitlinien des Berufsverbandes Medizinische Genetik verlangen, dass ein Betroffener vor jeder molekulargenetischen Labordiagnostik ausdrücklich in diese eingewilligt haben muss - und zwar möglichst schriftlich.

Befürchtungen der Angehörigen
    Die Zusammenarbeit zwischen dem Würzburger Humangenetik-Institut und der größten Einrichtung für geistig behinderte Menschen in Unterfranken, die seit Anfang der achtziger Jahre bestand, war den Eltern erst im Januar 1998 bekannt geworden. Seitdem fühlen sich viele Angehörige bei ihrem Bemühen um vollständige Aufklärung allein gelassen. "Die Leitung und der Vorstand wollen von nichts gewusst und nichts bemerkt haben; das kann ich nicht glauben", sagt Thekla Huth, deren behinderte Schwester Maria bis 1996 im St. Josefs-Stift lebte.

    Auch die Begründung, die Professor Tiemo Grimm und seine Kollegen vom Humangenetischen Institut im März 1998 für ihre Stippvisiten im Stift nachreichten, findet der Elternbeirat nach wie vor unbefriedigend: "Wir können nicht glauben", schrieb die Vorsitzende Rosa Schneidenbach im Februar 1999 an den bayerischen Landtag, "dass sich die Professoren regelmäßig ins Stift bemüht haben, nur um Gesicht und Füße von geistig behinderten Personen anzusehen."

Auswertung von Blutproben
    Was die Nutzung von Blut angeht, ist zumindest etwas Licht ins Dunkel gekommen. Grimms Professorenkollege, der Humangenetiker Holger Höhn, hatte im Februar 1998 gegenüber der Leitung des St. Josefs-Stifts eingeräumt, dass Bewohner ihres Hauses in eine Doktorarbeit einbezogen worden waren. Die Verfasserin der von Höhn mitbetreuten Arbeit, die Ärztin Silvia Fleischmann, hatte Blut von 214 Menschen molekulargenetisch analysiert, darunter 183 Bewohner aus, wie sie schreibt, "dem Behindertenheim". Aus der Arbeit ist ersichtlich, dass auch Krankenblätter ausgewertet wurden. Name und Herkunft der Beforschten werden zwar an keiner Stelle genannt. Doch aus Zuschreibungen zu "Wesensveränderungen" und "Entwicklungsstand" der Beforschten ist für Elternbeiratsmitglied Horst Weiland "unschwer zu ersehen, dass die Studie mit Leuten aus dem Heim in Eisingen geschehen ist".

    Eine Einwilligung der Sorgeberechtigten in solche Forschungen lag nach Darstellung der Elternvertreter ebenso wenig vor wie die pauschale Zustimmung zu Blutentnahmen oder Auswertungen von Krankenakten. Bei einer vom Beirat im Frühjahr 1998 veranlassten Umfrage gaben 236 von 244 antwortenden Eltern und Betreuer an, sie hätten noch nie etwas von humangenetischen Untersuchungen an Stiftbewohnern gehört.

    Im Rahmen ihrer Dissertation habe Fleischmann eine neue diagnostische Methode am Institut etabliert, erläuterte Professor Höhn den Verantwortlichen des Stifts. "Sie konnte damit die Häufigkeit der FRAXE-Expansion unter Patienten mit der Verdachtsdiagnose Fragiles-X-Syndrom bestimmen und somit zur Verbesserung der Diagnostik des fragilen X-Syndroms beitragen", bescheinigte Höhn seiner Doktorandin. Mit dem Begriff Fragiles X-Syndrom (FraX) bezeichnen Wissenschaftler eine bestimmte Veränderung auf dem X-Chromosom, die als eine Ursache geistiger Behinderung gilt.

"Fremdnützige Forschung"
    "Dass diese Tests im Rahmen des ärztlichen Behandlungsauftrags gemacht worden sind, kann man sicher nicht sagen", erläuterte die Hamburger Professorin Regine Kollek im November 1999. Die Molekularbiologin, seit Herbst 1999 Vorsitzende des Ethik-Beirates beim Bundesgesundheitsministerium, war von Angehörigen gebeten worden, Fleischmanns Doktorarbeit unter die Lupe zu nehmen. Kolleks Fazit: "Ich glaube, man kann das zusammenfassen, dass es im wesentlichen um fremdnützige Forschung ging."

    Diese Einschätzung wird durch die "vorläufigen Ergebnisse" der Expertengruppe um Professor Dörner und die Tübinger Humangenetikerin Sigrid Graumann weitgehend bestätigt. In ihrem Bericht heißt es: "Der Beitrag zum Erkenntnisfortschritt der Humangenetik durch die Doktorarbeit von Frau Dr. F. mag tatsächlich relativ unerheblich sein. Zumindest Frau Dr. F. profitierte von dieser Untersuchung aber durch den Titel, den sie damit tragen kann. Außerdem profitiert das Institut für Humangenetik von der Etablierung der FraX-Diagnostik insofern, als diese Diagnostik zukünftig als medizinische Dienstleistung angeboten werden kann. Wir gehen deshalb davon aus, dass es sich tatsächlich im Fall der FraX-Studie um fremdnützige Handlungen - ob man diese nun als 'Forschung' oder lediglich als 'wissenschaftliche Studien' bewertet - gehandelt hat."

    Fremdnützige Forschung mit Menschen, die persönlich nicht einwilligen können, ist in Deutschland  verboten. Dagegen erlaubt die Bioethik-Konvention des Europarates, die der Bundestag angesichts jahrelanger Proteste bisher nicht ratifiziert hat, in Ausnahmefällen medizinische Versuche mit geistig behinderten, demenzkranken oder bewusstlosen Menschen. Als typische Beispiele für fremdnützige Eingriffe zu Forschungszwecken hatte der frühere Bundesjustizminister Edzard Schmidt-Jortzig (FDP) immer wieder die "Untersuchung oder Mitnutzung von Blut-, Speichel- und Urinproben" genannt.

    Politikberaterin Kollek, die als Kritikerin des europäischen Übereinkommens bekannt ist, will nicht ausschließen, dass der Ethik-Beirat die Eisinger Vorgänge thematisieren wird, "wenn sich an diesem Fall spezielle Fragen zeigen lassen". Ohnehin sei geplant, Rechtsfragen zur genetischen Diagnostik zu erörtern. Zu überprüfen sei auch, ob Ringversuche zur Erprobung neuer Gentests, bei denen mehrere Universitäten anonymisierte Proben auswerten, überhaupt ohne Einwilligung der Betroffenen stattfinden könnten.

Erste Konsequenzen
    Derart grundsätzliche Bedenken sind dem Wissenschaftsministerium des Freistaates Bayern bislang nicht gekommen. In einer Antwort auf eine Anfrage des Landtagsabgeordneten Volker Hartenstein (Grüne) zum Eisinger Fall rechtfertigte Minister Hans Zehetmair im August 1998 die Forschungsarbeiten der Würzburger Humangenetiker – weitere Nachforschungen über die Kooperation zwischen Stift und Humangenetik-Institut hielt die Aufsichtsbehörde auch nach der Eingabe des Elternbeirates nicht für erforderlich.

    Allerdings erließ das Ministerium im September 1998 eine Weisung, die, so sein Pressesprecher Toni Schmid, dem zuständigen Sachbearbeiter "böse Anrufe" aus der Würzburger Universität eingebracht habe: Das Ministerium verpflichtete das Würzburger Institut, bei Blutanalysen künftig auch dann das Vorliegen einer rechtswirksamen Einverständniserklärung zu überprüfen, wenn die Laboruntersuchung im Auftrag anderer Ärzte erfolge.

    Erste Konsequenzen hat auch die Leitung des St. Josefs-Stifts gezogen. Per Dienstanweisung hat sie wissenschaftliche Untersuchungen im Stift im Prinzip untersagt. Die Weitergabe anonymisierter Bewohnerdaten an Forschungseinrichtungen soll laut überarbeitetem Heimvertrag aber dann erlaubt sein, wenn Betroffene, Eltern und gesetzliche Betreuer ausdrücklich zustimmen.

    Diese Neuregelungen hat der Beirat begrüßt. Gleichwohl warten Eltern wie Schneidenbach, Weiland und Huth noch immer auf die Beantwortung der "Frage, die uns am meisten beunruhigt: Was haben die Professoren überhaupt im Stift gemacht?" Dass sie dies jemals in vollem Umfang erfahren werden, ist auch nach Einsetzung der Expertenkommission nicht garantiert. Zumal Wissenschaftsgemeinde, Ärzteschaft, Sozialverbände und Politik es bisher versäumt haben, sich eingehend mit dem "Präzedenzfall Eisingen"  zu beschäftigen.


© KLAUS-PETER GÖRLITZER, 2000
                Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung des Autors
Zum Seitenanfang
Zur Artikelauswahl
Start