Publik-Forum Nr.19/1998

Dammbruch zur Euthanasie?



Von Klaus-Peter Görlitzer
Die Schlagworte, die die Bundesärztekammer seit Wochen unermüdlich verlautbart, sind immer dieselben: "Strikte Ablehnung der Sterbehilfe sowie Stärkung des Patientenwillens" seien "die Essentials" der neuen "Grundsätze zur ärztlichen Sterbebegleitung". Tatsächlich ist die Richtlinie eine Kampfansage an gesellschaftliche wie christliche Grundwerte. Denn das BÄK-Papier erlaubt, daß Ärzte Patienten ums Leben bringen dürfen sollen, die überhaupt nicht im Sterben liegen.

    Dem Töten reden die Ärztevertreter in ihrem Papier zwar nicht ausdrücklich das Wort, wohl aber der "Unterlassung lebenserhaltender Maßnahmen" und dem "Verzicht auf den Einsatz substituierender technischer Hilfsmittel". Gerechtfertigt werden damit zum Beispiel das Verhungernlassen von Patienten per Abbruch der künstlichen Erährung via Magensonde oder Infusion, die Einstellung der Beatmung oder der Abbruch der Dialyse. Ziel und Folge solcher Unterlassungen ist der Tod des Patienten – im Ergebnis unterscheidet sich dies nicht von der tödlich wirkenden Giftspritze, die die BÄK ablehnt.

    Zwingende Voraussetzung für das Ja zu todbringenden Unterlassungen ist gemäß BÄK-Richtlinie eine gesetzlich bisher nicht vorgesehene Fremdbestimmung, die die BÄK-Spitze durch künftige Rechtsprechung abgesichert sehen möchte: Stellvertretend für den Betroffenen, der sich wegen seiner Krankheit selbst nicht äußern kann, sollen Bevollmächtigte oder Betreuer den tödlichen Behandlungsabbruch beantragen dürfen, für behinderte Neugeborene sollen die Eltern entscheiden. Den Willen des Betreuers oder Bevollmächtigten soll der Arzt ausführen müssen, sofern ein Vormundschaftsgericht den Sterbehilfe-Antrag genehmigt – Richter werden so zu Richtern über Leben und Tod. Gibt es keine Stellvertreter-Erklärungen, so soll der "mutmaßliche Wille" des Patienten in der konkreten Situation" dafür maßgeblich sein, ob der Betroffene weiterbehandelt wird oder nicht.

    Doch der "mutmaßliche Wille" ist nur eine Projektion – der Begriff steht für Vermutungen von Ärzten, Angehörigen und Juristen darüber, ob und wie der nichtäußerungsfähige Patient wohl behandelt werden wolle oder nicht. Zur seriösen Ermittlung des wirklichen Willens taugen auch sogenannte "Patientenverfügungen" nicht. Denn solche Voraberklärungen pro Behandlungsverzicht werden meist in gesunden Tagen zu Papier gebracht, fernab der konkreten Situation des Komas oder der Demenz.

    Ob gewollt oder nicht: Die neuen Grundsätze zur Sterbebegleitung bahnen den Weg in die Euthanasie-Gesellschaft. Sollten Richter, Gesetzgeber und Mediziner diese Vorgaben akzeptieren, so sind Zehntausende mittelfristig bedroht – diejenigen nämlich, die sich selbst nicht äußern können, deren medizinische Versorgung teuer ist und die keine Fürsprecher mehr haben. Neben Komapatienten wird dies vor allem Menschen betreffen, die in Heimen leben: Demenzkranke und geistige Behinderte im Falle lebensbedrohender Erkrankung.

    Diese Prognose ist kein Horrorszenario, sondern eine Entwicklung, vor der BÄK-Vizepräsident Jörg-Dietrich Hoppe eindringlich gewarnt hatte. Ein Behandlungsabbruch könne nur im Sterbeprozeß in Erwägung gezogen werden, der Arzt dürfe nicht auch als Tötender auftreten. Es wird Zeit, daß Hoppe und Berufskollegen diese Worte wieder ernst nehmen.


© KLAUS-PETER GÖRLITZER, 1998
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